Small Talk: Der Thread für Belangloses

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penelope
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4981

Beitrag von penelope » Di 13. Jul 2021, 08:39

Der Kaiserhof in Berlin 1913 war ein Hotel ;-)

Das Grand Hotel Heiligendamm mit seinem Sternerestaurant zB kauft heute auch noch Waren der besten Handelsklasse, während Sortierungen, die es nicht in den Supermarkt schaffen, in 10 kg Säcken im Landhandel liegen.

(Zudem hat Italien 1935 die ersten Truppen nach Abessinien geschickt und mit Frankreich und GB eine Erklärung gegen die Aufrüstung Deutschlands und für die Eigenständigkeit Österreichs unterschrieben. Ich mag mal bezweifeln, dass man da die Ressourcen hatte, besonders schöne Äpfel raus zu sortieren und wenn, dann gingen die natürlich nicht nach Berlin. Nicht falsch verstehen: deine ganzen Grundaussagen - Wichtigkeit des Bodenlebens, Wertigkeit der Lebensmittel usw - teile ich total. Aber gerade weil mir diese Themen auch wichtig sind, ärgern mich solche populistischen und schlecht recherchierten Schriften so sehr.)

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emil17
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4982

Beitrag von emil17 » Di 13. Jul 2021, 09:38

Nun ja, das mit den Äpfeln ist leicht zu erklären: Wenn die Ware nach Gewicht gehandelt wird, dann produziert man nach Gewicht.
Der Schweizer Wein war früher langweilige Massenware, dank Abnahmegarantie des Bundes. Bei Marktöffnung kam zuerst das Geschrei, das sei der Untergang der Weinbauern. Die Weinbaufläche hat sich nicht verringert, der Wein ist teurer und deutlich besser geworden.

Die Sache mit den Büchern vom traditionellen Omawissen sehe ich als Möglichkeit, den Traum von der guten alten Zeit in die Hektik der Gegenwart zu transportieren, ohne dafür viel machen zu müssen ausser dass man etwas, das Buch, kauft.
Wenn man einer neuzeitlichen Gartenphilosophie folgt, dann kommt das letzlich gleiche Wissen eben nicht von der etwas drögen Uroma, sondern aus Fernost oder aus den angelsächsichen Ländern. Damit kann man durch die Hintertüre die Sehnsucht nach der Geborgenheit unter einem allwissenden Guru befriedigen, der einem die beruhigende Gewissheit gibt, es richtig zu machen. Wir merken, dass unsere Zivilisation in gewissen Bereichen Probleme macht, also ist es gut, wenn der Heiland aus einer uns fremden Kultur kommt.
Das ganze kriegt dann durchaus religiösen Charakter: Heute gärtnert man nach xyz, so wie man früher in diese oder jene Kirche ging, und grenzt sich ideologisch von denjenigen ab, die auf anderen Wegen zum gleichen Ziel kommen wollen. Weil wir wissen, dass wir es richtig machen, werden wir dadurch zu besseren Menschen. Das eigentlich praxisrelevante Wissen ist aber oft bloss alter Wein in neuen Schläuchen. Unsere Vorfahren waren auch nicht dumm, und dass man zuviel Unkraut auszupft und irgendwas als Dünger auf den Acker bringen muss, wenn die Kultur Ertrag bringen soll, darauf kommt man zwangsläufig, auch wenn man nun statt Unkraut Beikraut sagt.

Auch die aus heutiger Sicht unglaubliche Technikbegeisterung der frühen Nachkriegszeit ist leicht verständlich. Diese Techniken machen erst einmal das tägliche Leben einfacher. Irgendwas spritzen, statt tagelang in der Sommerhitze Käfer von den Kartoffeln ablesen zu müssen, das hat schon was, und wenn 25 Kilo Superdünger aus der Fabrik mehr bewirken als ein ganzes Fuder Mist, das man von Hand aunf- und abladen und verteilen muss, dann hat das auch was.
Die Anwendung von chemischen Düngern und Pflanzenschutzmitteln hat ja direkten Effekt, genauso wie Atomkraftwerke und motorisierter Individualverkehr direkten Effekt haben. Das, was sich heute Technikfolgenabschätzung nennt, kam erst später, nachdem die Probleme mit der neuen Technik nicht mehr zu ignorieren und auch nicht mehr bloss irgendwelchen ideologisch verbildeten Systemkritikern unterzuschieben waren. Von denen, die damit Geld verdienen, wird das immer als unvermeidlich und als "ist hinzunehmen" dargestellt. Verkehrslärm, radioaktive Abfälle, Verlust an Biodiversität und so weiter ... dem kann man ausweichen oder man kann es ignorieren; billige Lebensmittel, unbegrenzte Mobilität und Strom für alle und alles jederzeit und überall wirken direkt bequemlichkeitsfördernd.
Heute sind wir mental nicht weiter, nur sind die neuen Glücksbringer die elektronischen Medien und die dazu erforderlichen Geräte. Die Kollateralschäden werden vermutlich in eingen Jahrzehnten Allgemeinwissen sein.
Wer will, findet einen Weg. Wer nicht will, findet eine Ausrede.

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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4983

Beitrag von Eberhard » Di 13. Jul 2021, 10:39

schlecht recherchierten Schriften
Naja, Alwin Seifert beschreibt, dass er, als er nach Südtirol reiste, seinem Vater einen solchen guten Apfel mitbringen sollte. Das ist ein Detail, ein Funke, aus einem realen Lebensgefühl jener Zeit.
Mit freundlichem Glück Auf!

Eberhard

penelope
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4984

Beitrag von penelope » Di 13. Jul 2021, 11:08

Gerade das Lebensgefühl von Alwin Seifert sollte man kritisch im Hinterkopf behalten, wenn man sich mit seinen Büchern auseinandersetzt. Er war in der NSDAP und Mitglied der Thule Gesellschaft, Anhänger der Rassentheorie und wurde von Hitler zum „Reichlandschaftsanwalt“ ernannt.

Das soll nun explizit NICHT heißen: der war Nazi, alles was er geschrieben hat, ist falsch.

ABER: gerade die Reformbewegungen im frühen 20. Jahrhundert waren ein sehr politisch aufgeladenes Feld, sehr dynamisch und spannungsreich zwischen totaler Fortschrittsgläubigkeit und „zurück zur Natur“ mit einem sehr fließenden Übergang zur Blut und Boden-Ideologie. Viele Leute, die zwischen den Weltkriegen in diesen Reformbewegungen verortet waren, fanden in der Ökologiebewegung der 60er und 70er Jahre im Altern nochmal eine zweite Heimat. Die Erkenntnisse dieser Leute, müssen deswegen nicht falsch sein, der ideologische Überbau, die Argumentation und anekdotische Erzähungen sollte man jedoch mit wachsamen Geist und entsprechender Einordnung lesen und nicht einfach übernehmen.

(Ein besonders druckempfindlicher Apfel, würde über 2500 km von Meran nach Moskau transportiert, über den Balkan, der 1913 Kriegsgebiet war und kam dort in einer Qulität an, die den Zaren begeistert hat?!? Man darf und sollte da skeptisch sein.)

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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4985

Beitrag von Teetrinkerin » Di 13. Jul 2021, 13:51

Um Zaren und Könige und deren exquisiten Geschmack zu befriedigen, wurden auch damals große Anstrengungen in Kauf genommen. Der Weiße Winterklavill wurde bereits am Baum "eingetütet" um Druckstellen zu vermeiden. Und ja, sie wurden sortiert und zum Stückpreis verkauft.

http://www.kuechengarten.net/index.php? ... sub=201203

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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4986

Beitrag von penelope » Di 13. Jul 2021, 14:37

Ein Verkäufer der Sorte stapelt etwas tiefer und bei ihm gingen die Äpfel wohl nur von Böhmen nach Dresden:
https://alte-obstsorten.eu/neu/index.ph ... 52&abest=1

Es gab wohl mal einen gewissen Kult um die Sorte, aber einiges dürfte von Erzählung zu Erzählung überhöht worden sein.

Aber dass es um einige Spezialitäten ein riesen Rummel gemacht wird, ist weder was altes noch was neues, sondern das gab und gibt es immer. Das zeigt keine generelle Entwicklung auf. Aber es geht mir auch nicht um diesen einen speziellen Apfel, sondern darum, dass speziell bei Seifert, aber auch bei vielen anderen frühen „Ökopionieren“, differenziert hingucken sollte: fachlich waren die für ihre Zeit sicher oft sehr gut, aber den ideologischen Überbau und die politische Einordnung sollte man besser getrennt davon und mit Vorsicht betrachten.

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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4987

Beitrag von emil17 » Di 13. Jul 2021, 14:42

Ich bin positiv erstaunt, wie angenehm zu lesen und dabei informativ und botanisch und geschichtlich korrekt die Artikel über Kulturpflanzen auf dieser Webseite kuechengarten.net sind!
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4988

Beitrag von emil17 » Di 13. Jul 2021, 15:00

Was den ideologischen Überbau betrifft, der heute zu Recht auf den Müllhaufen der Geschichte gehört: man sollte bedenken, dass derartige Weltanschauungen bis nach der Katastrophe des Dritten Reiches in weiten Kreisen aller Industrienationen weit verbreitet und selbstverständlich waren. Sie wurden wohl auch im damaligen Kontext nicht besonders hinterfragt.
Wenn man es sehr genau nimmt, sind wir immer noch Rassisten: Wer holt in der dritten Welt Erz aus der Grube, behaut Steine und macht Jeanshosen? Und warum wird etwa Indien mit ihrem für unsere Begriffe unsäglichen Kastenwesen ohne Kommentar und Hintergedanken als Handelspartner akzeptiert?

So ab den 1860er Jahren waren Bahntransporte quer durch Europa möglich, was auch vor der Zeit der Bahnkühlwagen und Eilgüterzüge Transporte nicht allzu verderblicher Waren über weite Strekcne ermöglichte. Wenn der Preis stimmte, konnten die Äpfel also vom Südtirol, damals noch k. und k., seit 1867 über die Brennerbahn nach Deutsch-Österreich und von dort weiter nach Russland geführt werden.
Wenn man die Äpfel einer robusten Lagersorte sorgfältig einzeln in Stroh verpackt, halten die viel aus - und bei einem Stückpreis von mehreren Arbeitsstundenlöhnen wird heute noch sehr viel Unsinn mit Lebensmitteln gemacht.
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4989

Beitrag von Teetrinkerin » Di 13. Jul 2021, 15:28

Penelope, das sind nun auch nur Mutmaßungen deinerseits.

Hast du Seiferts Buch gelesen? Ich sehe seinen politischen Hintergrund durchaus auch als sehr problematisch an, dennoch empfinde ich sein Buch nicht als ideologisch und hat auch heute in vielen Teilen Bestand.

penelope
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Re: Small Talk: Der Thread für Belangloses

#4990

Beitrag von penelope » Di 13. Jul 2021, 15:59

@emil:
Du hast sicher in vielen Teilen Recht und man kann Texte aus der damaligen Zeit nicht mit der heutigen Sprache vergleichen. Damals waren noch ganz andere Annahmen gedankliches Gemeingut und nicht jeder, der nicht im Widerstand war, war damit gleich Nazi.

Seifert aber ist 1937, als die meisten Ressentiments gegen die jüdischen Bürger bereits erlassen worden waren, in die NSDAP eingetreten und stand mit den wirklichen Nazi-Größen in regelmäßigen Kontakt. Er war sicher ganz lange nicht der schlimmste und in seinem Entnazifizierungsprozess ist er recht gut weggekommen, aber als durchschnittlichen Zeitgeist kann man seine Biographie nicht lesen.

In der frühen Bio-Bewegung gab es aber auch unstrittig sehr schwerwiegend schuldige Naziverbrecher. Franz Lippert hat bis in die 80er Jahre hinein in der Demeter-Zeitschrift Lebendige Erde Artikel veröffentlicht. Er war SS-Offizier im KZ-Dachau, wo ein biologischer Kräutergarten von den Häftlingen betrieben wurde, die dort in Massen elendig und unwürdig ermordet wurden.

@teetrinkerin:
Auf das rein fachliche begrenzt finde ich die Schriften von Seifert auch gut und vieles nach wie vor praktisch anwendbar. Eberhardt hatte nun eine Stelle zitiert, in der es eher um gesellschaftliche Entwicklungen ging. Und das sollte man bei Seifert nicht unkritisch als gegeben hinnehmen - auch nicht, wenn wirklich mal ein paar Äpfel in Moskau angekommen sind.

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