erzähl doch mal von früher...

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Sabi(e)ne
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Re: erzähl doch mal von früher...

#71

Beitrag von Sabi(e)ne » Mo 22. Sep 2014, 21:45

Die Mutter vom Mann ist als 12jährige zu Fuß aus Schlesien mit ihrer Oma bis nach Göttingen geflohen.
Mit 25 hat sie geheiratet, mit eigenen Händen ein Häuschen gebaut, und wollte immer schon viele Kinder. Ihrem Mann hätten vermutlich 2-3 gereicht, aber der streikte erst ernsthaft, als es schon 7 waren.
Sie hatten ein langes Grundstück - 2000qm, und das war die Grundlage des Haushalts.
Das war der Job vom Papa nach der Schicht in der Glasfabrik - der Garten.
Kartoffeln in riesigen Mengen anbauen, als Grundlage.
Genauso wichtig: grüne Bohnen - da mußte dann Mutter im Keller den Waschkessel für's Einmachen anheizen, die hunderte von Gläsern spülen, und alles einkochen.
Der nächstwichtige Punkt war Kohlernte und Sauerkraut machen.
Dazu alles an Obst einkochen, was man kriegen konnte - hier in der Gegend waren ALLE Straßenbäume Obstbäume, deren Ertrag jährlich für wenig Geld versteigert wurde.
Dazu hielt man Kaninchen - das war ein Job für die Jungs, da genug Futter ranzuschleppen.
Hühner gab es erstaunlicherweise nicht, aber die Jungs gingen auch oft an die Weser zum Angeln. :pfeif: Da wurde dann mit den Hühner-Nachbarn getauscht.
Zweimal die Woche kam das Bäckerauto - damals gab es noch Brote mit 5 Pfund oder größer zu kaufen. Brötchen wären absoluter Luxus gewesen.
Milch gab es vom Bauern 500m weiter jeden abend frisch - Jungsjob.
Standard-Abendbrot waren Brote mit Margarine und Teewurst, soviel jeder essen konnte, und ab und zu eingelegte Gurken dazu.
Gekauft wurde jedes Vierteljahr ein großer Eimer Rübensirup und einer mit Erdbeermarmelade, weil für Erdbeeren kein Platz im Garten war.
Altersunterschied zwischen erstem und letztem Kind 17 Jahre - 5 Jungs, die letzten beiden waren dann Mädchen.
Eine Waschmaschine bekam die Mutter irgendwann in den 50er - nach zwei Jahren Ratenzahlungen im voraus.
Heutzutage würde man das vermutlich alles als sehr rustikal ansehen, aber man hat mir versichert, daß man niemals Hunger litt, und insgesamt eine wirklich gute Kindheit hatte.
Es ist im heutigen Sinn auch aus allen "was geworden" - und niemand hat ein Trauma, weil er kein eigenes Zimmer hatte... :lol:

Alle sind der Meinung, daß die heutigen Kinder echt arm dran sind, weil sie weder die Solidarität untereinander kennen, und auch nicht solche "Freilauf-Privilegien" mehr haben.
Bei denen galt übrigens auch "wenn die Laternen angehen, kommt ihr nach Hause". ;)
I love life. And it loves me right back.
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sybille
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Re: erzähl doch mal von früher...

#72

Beitrag von sybille » Mo 22. Sep 2014, 22:14

Ach ja, da kommen immer mehr Erinnerungen hoch :)
Es wurden hunderte von Gäsern Bohnen und Marmeladen bzw. Gelees eingemacht. Dafür wurde überall am Straßenrand und an den Bahndämmen gesammelt.
Wie selbstverständlich ist heute ein Brötchen im Gegensatz zu früher!
Um die Kaninchen hatte ich mich zu kümmern. Es waren Meine und wenn es zuviele waren wurde auch verkauft und ich durfte das Geld behalten. Das war sehr schön, da es kein Taschengeld gab.
Milch und Eier hatten wir selber und ich kann mich gut erinnern das die Nachbarschaft abends immer mit den Kannen kam um Milch zu holen und die Oma die Eier durchleuchtete, die auf 30ger Stiegen verkauft wurden.
Hühner sind Menschen wie Du und ich, nur das sie zur Hausordnung Hackordnung sagen.

Sabi(e)ne
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Re: erzähl doch mal von früher...

#73

Beitrag von Sabi(e)ne » Mo 22. Sep 2014, 22:18

:lol: Ja, das mit den Hunderten Gläsern zum Einmachen glaubt heutzutage irgendwie keiner mehr.....
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Re: erzähl doch mal von früher...

#74

Beitrag von Hildegard » Di 23. Sep 2014, 21:06

Sabi(e)ne hat geschrieben::lol: Ja, das mit den Hunderten Gläsern zum Einmachen glaubt heutzutage irgendwie keiner mehr.....
deinem GlaUBEN kann geholfen werden: Schau mal in meinen Keller! :mrgreen:
LG Hildegard
Trau nie dem Ort an dem kein Unkraut wächst ;)

Melusine

Re: erzähl doch mal von früher...

#75

Beitrag von Melusine » Mi 24. Sep 2014, 06:54

Ich hab mir mit dem Ernten von Johannesbeeren einen Globus verdient.
Da gab es noch Abnahmestellen für jedwedes Obst.

Olaf
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Re: erzähl doch mal von früher...

#76

Beitrag von Olaf » Mi 24. Sep 2014, 07:38

Ich hab mir mit dem Ernten von Johannesbeeren einen Globus verdient.
Genau. Naja, ganz so fleißig war ich nicht. Ich hab Oma gefragt, warum wir unten keine Blätter reintun.
"Das macht man nicht!"
Diese Unschuld oder Ehrlichkeit haben die heutigen Lebensmittel weitgehend verloren.
Um die Annahmestellen find ichs auch schade. Aber im jetzigen System braucht man da nicht drüber nachdenken.
Eigentlich bin ich ein netter Kerl.
Wenn ich Freunde hätte, könnten die das bestätigen.

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Re: erzähl doch mal von früher...

#77

Beitrag von hobbygaertnerin » Mi 24. Sep 2014, 13:58

Bei diesem Thread habe ich mich in vielem wiedergefunden.
Echt schön zum Lesen-
ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, als Kind hatten wir ein Stück weit so ein ähnliches Leben so wie Astrid Lindgren es in Richtung Bullerbü beschrieben hat- aber auch Pflichten, Verantwortung, nicht viel Freizeit.
Während die anderen Kinder mit dem Fahrrad ins Schwimmbad gefahren sind- mussten wir Rüben hacken oder vereinzeln helfen.
Es gab da auch niemals Diskussionen, Mithilfe bei Ernte usw. war einfach selbstverständlich.
Apfelsaft mosten, Sauerkraut einhobeln, Schweine schlachten, zusehen und dann auch beim Wursten mithelfen- aber auch Bachabkehr- Fische mit der Hand fangen- und früh lernen, sie gezielt zu töten und auszunehmen.
Wir mussten als Kinder jeden Tag mit dem Fahrrad zur Waldweide fahren und dort den Zaun der Weidetiere kontrollieren- dabei haben wir Himbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren gepflückt, Pilze gesucht und gefunden- zum Schwimmen sind wir an das Altwasser gefahren- hatten einen aufgeblasenen Traktorreifen als Boot - wir sind auf Bäume geklettert- und haben Baumhäuser gebaut-
für was ich heute noch dankbar bin- diese Selbstverständlichkeit von Vertrauen- ich kann mich nicht erinnern, dass uns unsere Eltern vor irgendwas Angst gemacht hätten.
Was ich als wirklichen Mangel ansehe- ich hatte keine Grosseltern, sie starben vor meiner Zeit.
Das ganze generative Wissen musste ich mir oft sehr mühsam zusammen suchen- und ich merke, mir fehlt ein Stück Familie.
Unsere Eltern waren mit Hof und der damaligen viel arbeitsintensiveren Landwirtschaft mehr als ausgelastet- so eine Oma oder Opa, von dem ich mir was abschauen hätte können- schade, das gabs nicht.
Ich habe mich auch gefragt, warum mir die SV so viel bedeutet- ob es aus nostalgischen Gefühlen heraus entstanden ist- wohl eher nicht.
Es hat eher mit der Prägung der Geschmacksnerven zu tun- selbstgemacht schmeckt einfach anders- Sauerkraut aus dem Fass im Herbst, der selbstgemachte Apfelsaft- in Anbetracht der weiten Reisen, die heute Lebensmittel oft hinter sich haben- es ist ein schönes Gefühl, mit eigenen Händen etwas schaffen zu können.
Was mich auch in euren Beiträgen berührt hat- ich bin auf der Westseite aufgewachsen- wir hatten keine Ostverwandtschaft- aber ich habe den Mauerfall genutzt und seither eine wunderbare Freundin gefunden- mit der wir immer wieder auch nostalgische ost-west Diskussionen führen.
Besonders in Richtung Selbstversorgung habe ich von ihr sehr viel lernen können.

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Minze
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Re: erzähl doch mal von früher...

#78

Beitrag von Minze » Mi 24. Sep 2014, 16:52

Ich bin in der Stadt aufgewachsen, aber die Ferien durfte ich im Bayerischen Wald bei meinen Urgroßeltern (!) verbringen, dort sind meine schönsten Kindheitserinnerungen.

Die Urgroßeltern hatten eine winzige Landwirtschaft, einen großen Gemüsegarten, einen Brotbackofen, zwei Kühe, ein Schwein, Hühner und den Spitz Maxl. Die Uroma hat mit der Kuh gepflügt, sie war eine kleine, zarte Frau und lud sich doch die Deichsel auf die Schulter, damit sich die Kuh nicht so plagen muß, wie sie sagte. Das Schwein hatte ein kleines Abteil im Stall und am Haus gab es keine Weidemöglichkeit, also ging mein Urgroßvater jeden Abend eine Runde um das Dorf mit dem Schwein spazieren, damit es rauskam. Es folgte ihm auch wie ein Hund.

Es wurde erzählt, daß mein Urgroßvater ein armer aber sehr fleißiger Knecht war, die "Sach" gehörte den Eltern meiner Uroma und deshalb sollten die beiden verkuppelt werden. Sie wurden mit einem Vorwand in einen Raum gelockt und eingeschlossen, damit war die Heirat ein muß :) . Sie haben aber eine sehr gute Ehe geführt und sich gut verstanden.

Jeden Abend gab es saure Suppe mit Bratkartoffeln, die Kartoffelpfanne stand mitten auf dem Tisch und jeder griff mit dem Löffel rein. Ich habe sie geliebt und esse sie heute noch sehr gerne. Leider kann ich hier keine Milch vom Bauern kaufen, also behelfe ich mir mit Dickmilch und im Winter gibt es sie mindestens einmal die Woche.

Wenn ich irgendetwas mit Heimat verknüpfe, dann ist sie da, ich hatte das Gefühl, da gehöre ich hin. Meine Uroma starb, als ich 10 Jahre alt war, mein Uropa 4 Jahre später. Der Hoferbe (mein Großonkel) hat als erstes die Austragswohnung geräumt und alles wurde verbrannt (!). Dann kam das Vieh weg und nicht lange danach wurde der wunderschöne alte Hof abgerissen und durch ein modernes Haus mit Glasbausteinen ersetzt. Ich bin nie wieder da hin gefahren.
Liebe Grüße
Minze

poelinger

Re: erzähl doch mal von früher...

#79

Beitrag von poelinger » Mi 24. Sep 2014, 17:55

Olaf hat geschrieben:
Ich hab mir mit dem Ernten von Johannesbeeren einen Globus verdient.
Genau. Naja, ganz so fleißig war ich nicht. Ich hab Oma gefragt, warum wir unten keine Blätter reintun.
"Das macht man nicht!"
Diese Unschuld oder Ehrlichkeit haben die heutigen Lebensmittel weitgehend verloren.
Um die Annahmestellen find ichs auch schade. Aber im jetzigen System braucht man da nicht drüber nachdenken.

Wilkommen zum 25- jährigen Jubiläum.. ;)

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Re: erzähl doch mal von früher...

#80

Beitrag von Mika » Mi 24. Sep 2014, 18:37

hobbygaertnerin hat geschrieben:... hatten einen aufgeblasenen Traktorreifen als Boot -
quietsch, ja wir Kinder hatten auch einen, zum im Winter den Berg hinunterrutschen. Mei hat es uns oft übel geschmissen :mrgreen: .

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